Seminar: 4.03.2401 Georg Lukács: Klassiker des Marxismus – 100 Jahre "Geschichte und Klassenbewusstsein" - Details

Seminar: 4.03.2401 Georg Lukács: Klassiker des Marxismus – 100 Jahre "Geschichte und Klassenbewusstsein" - Details

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Allgemeine Informationen

Veranstaltungsname Seminar: 4.03.2401 Georg Lukács: Klassiker des Marxismus – 100 Jahre "Geschichte und Klassenbewusstsein"
Untertitel
Veranstaltungsnummer 4.03.2401
Semester SoSe2022
Aktuelle Anzahl der Teilnehmenden 52
erwartete Teilnehmendenanzahl 40
Heimat-Einrichtung Institut für Philosophie
Veranstaltungstyp Seminar in der Kategorie Lehre
Erster Termin Dienstag, 19.04.2022 14:15 - 15:45, Ort: A01 0-004
Art/Form
Lehrsprache deutsch

Räume und Zeiten

A01 0-004
Dienstag: 14:15 - 15:45, wöchentlich (14x)

Modulzuordnungen

Kommentar/Beschreibung

Das Wort Mensch
Das Wort Mensch, als Vokabel
eingeordnet, wohin sie gehört,
im Duden:
zwischen Mensa und Menschengedenken.
Die Stadt
alt und neu,
schön belebt, mit Bäumen
auch
und Fahrzeugen, hier
hör ich das Wort, die Vokabel
hör ich hier häufig, ich kann
aufzählen von wem, ich kann
anfangen damit.
Wo Liebe nicht ist,
sprich das Wort nicht aus.

Johannes Bobrowski (15. 6. 1965)

Nun sind Sie wohl überrascht, dass einem philosophischen Lukács-Seminar mittelbar das Mensch-Gedicht des im ostpreußischen Tilsit geborenen und in der ehemaligen DDR lebenden Dichters Bobrowski (1917-1965) vorangestellt wurde. Das Thema vieler seiner hermetischen Gedichte war der Osten Europas, Sarmatien, die kulturelle Bewusstseinstopographie der großen Ströme und Flüsse Weichsel, Memel, Wolga, Düna und Dubna, die Steppen, Wälder und Sümpfe, die zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer liegen. Bekannt sind seine „Pruzzische Elegie“ (1952), Gedichtbände wie „Sarmatische Zeit“ (1961) oder „Wetterzeichen“ (1965), worin die Geschichte aus Unglück und Verbrechen der Deutschen im europäischen Osten seit den kolonialistischen Tagen des Deutschen Ritterordens bis zur systematischen Vernichtung der Juden durch die Nazis und deren rumänische und ukrainische Kollaborateure poetisch mit auch naturmystischen Bildern bearbeitet werden.
Einer von Bobrowskis Freunden war Paul Celan (1920-1970), geboren in Czernowitz, der multisprachlichen Bukowina (Teile gehören zur heutigen Ukraine), Überlebender des NS-Arbeitslagers und Dichter der Überlebensschuld. Als Autor der berühmten „Todesfuge“ („SCHWARZE Milch der Frühe wir trinken sie abends […]/dein goldenes Haar Margarete/Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den/Lüften da liegt man nicht eng […].“), entstanden 1944/45 im Lager, veröffentlicht in der Gedichtsammlung „Der Sand aus den Urnen“ (1948), hatte Celan seine traumatischen Erfahrungen symbolisch mit dem grausamen Tod aller jüdischen Opfer des Holokaust verknüpft. Auch die vom sowjetischen Dichter und Stalin- und Antisemitismuskritiker Jewgeni Jewtuschenko veröffentlichte „Babi Jar“-Nänie (vertont von Dimitri Schostakowitsch: 13. Sinfonie op. 113) und das Antikriegsgedicht „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ (beide 1961, kurz vor der Kuba-Krise entstanden), sind Beispiele zur Verortung der historischen Triebkräfte, von denen die brutalen Ereignisse der Wirklichkeit einerseits schuldhaft verursacht und andererseits, Jahre später, ästhetisch-anklagend transformiert wurden (vgl. Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944. Hamburg: Hamburger Edition, 3. Aufl., 2021).
Viel mehr über die Kraft der Mnemosyne der Literatur erkläre ich jetzt nicht, denn ich möchte mit einer weiteren Erzählung fortfahren, die als unmittelbare Hinleitung zur Theorie der gesellschaftlichen Ontologie aufzufassen ist, wie sie Georg Lukács (1886-1971) in seinem epochemachenden Werk „Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik“ (1923; fortan: GuK) am Beispiel der bürgerlichen und proletarischen Verfasstheit der Moderne als Beziehung des Subjekts und Objekts im Geschichtsprozess entwickelte. Wem einmal wie mir die Möglichkeit zu Teil wurde, die Bibliothek und den Nachlass von Lukács an der am linksseitigen Ufer der Donau in Budapest gelegenen Wohnung im Herbst 2006 zu einem Zeitpunkt besichtigt haben zu können, als noch nicht antisemitische und antikommunistische Häme von Viktor Orbán als Mittel verstörender Machtpolitik eingesetzt wurde, dem war der breite Holzschreibtisch des ungarisch-jüdischen Philosophen und Literatur- und Kunstwissenschaftlers aufgefallen. Ich setzte mich auf den derben Arbeitsholzstuhl und konnte nachempfinden, wie nach konzentriertem Lesen und Schreiben der verkrampfte Nacken sich langsam durch tastendes Aufblicken löste und auf ein bedeutendes Bild der Kunstgeschichte fiel: Die Reproduktion von Giorgione da Castelfrancos großformatigem Gemälde „Die drei Philosophen“ (1508/09), die dem alten Lukács als Lebensbegleiter die wissenschaftliche Überzeugung mitteilten, dass sie einen profunden Forschungsansatz fanden, und dass ihre kombinatorische Methode der Untersuchung von Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte weitergeführt und vertieft werden könne.
Der venezianische Maler Giorgione (1478-1510), dem Lukács gleichsam in die Augen und auf die werktätigen Hände schaute, hatte eine Allegorie geschaffen, worin drei vordergründig in eine hügelige Naturlandschaft gesetzte Figuren durch ihre Gesten auf die europäisch-arabische Verflochtenheit generationenübergreifenden Denkens als einer metaphysischen Tätigkeit verweisen, die gleichzeitig mit der praktischen Winkelausmessung einer dunklen Höhle verknüpft ist, die von dem rechts im Bild positionierten Jüngling vorgenommen wird. Im Bildhintergrund, gerahmt von zwei Laubbäumen, befindet sich ein profaner Architekturbau, der als urbane Wohn- und Arbeitsstätte der drei Philosophen gelten kann. Ágnes Heller (1929-2019), Lukács‘ bedeutende Schülerin, war es gewesen, die ihm die Reproduktion von einem Forschungsaufenthalt in Italien mitbrachte, der während der späten 1950er Jahre stattfand und zur Vorbereitung ihrer bahnbrechenden Studie „Der Mensch der Renaissance“ (Ungarisch: 1967; Engl.: 1978, Dt.: 1988) diente.
Einige Jahre nach meinem Besuch im Lukács-Archiv hatte ich als Nietzsche-Fellow der Klassik Stiftung Weimar das Glück, Ágnes Heller bei einem persönlichen Zusammentreffen in Nietzsches Sterbezimmer der „Villa Silberblick“ im Sommer 2011 kennenzulernen. Eingeladen von meinem damaligen Gastgeber, dem Philosophen und Leiter des Nietzsche-Kollegs, Rüdiger Schmidt-Grépály, beantwortete Heller meine Fragen, wie und warum die Reproduktion des Giorgione-Gemäldes in Lukács‘ Arbeitszimmer gelangte: „Ich schenkte sie ihm. Wissen Sie, das Gemälde hat sehr viel mit Lukács‘ Werk, mit allen seinen Schriften, mit der Art seines Denkens und Schreibens, zu tun.“ Dabei ist nicht zu vergessen, dass die drei Philosophen, die als Thomisten, Averroristen und Naturforscher miteinander polemisieren, repräsentativ sind für die venezianische Geschichtsentwicklung um 1500, die losgelöst von der päpstlichen Inquisition, die Erforschung ontologischer Probleme betrieben und als praktisch-ethisch-gesellschaftliche Denker das durch den freien Willen gestärkte Selbstbewusstsein des Menschen repräsentieren sowie die Welt der Diesseitigkeit nicht nur kompromisslos betrachten, sondern auch untersuchen.
Hellers Antwort über Giorgiones Gemälde in Lukács‘ Arbeitszimmer eröffnet einen aufschlussreichen und grundlegenden Zugang zur Erzählstruktur, Methodik und Absicht von „GuK“: So wie Giorgiones Philosophen unter ganz anderen historischen Zeitumständen die humanistische Reflexionsform des metaphysischen und praktischen Denkens frühbürgerlicher Emanzipation von der Kirche repräsentieren, hatte Lukács in der Phase der Klassenkämpfe von 1917 und 1923 – vor rund 100 Jahren, als die II. Internationale sozialdemokratisch geprägt war und mittels Zustimmung zu den Kriegskrediten von 1914 ihrer proletarischen Klientel ins Gesicht schlug – die Niederschrift seines Buches begonnen.
Warum sollte man sich heute mit „GuK“ im Kontext europäischer Geistes- und Kulturgeschichte beschäftigen? Die Essays, zwischen 1919 und 1922 einzelveröffentlicht, waren als Buch im Berliner Malik Verlag 1923 erschienen und evozieren durch den Titel emanzipative Vorstellungen, die mit der Verhältnisbestimmung von „Geschichte“ und „Klassenbewußtsein“ zugleich Begriffe wie „Sein“ und „Bewusstsein“ reflektieren, und zwar auf doppelte Weise als Wiederentdeckung der Epoche des 18. und 19. Jahrhunderts: Lukács‘ Rettung des verschütteten Kerns der marxistischen Theorie bestand darin, dass sie sich am deutschen Idealismus abrieb, denn der Idealismus ist als Reflexionsform und geistiger Widerhall der bürgerlich-französischen Revolution aufzufassen. Die Integration des Idealismus stellt den Freiheitskern marxistischer Theorie dar, die jedoch nicht plumper Welterklärung dient, sondern als Kritik der politischen Ökonomie konzipiert ist, die Lukács wieder ans Tageslicht beförderte, als sie vom Revisionismus sozialdemokratischer Provenienz aus dem Gedächtnis der Arbeiterbewegung gestrichen wurde (große Ausnahme: Franz Mehring). Insofern verdeutlicht Lukács am Begriffspaar „Geschichte“ und „Klassenbewußtsein“ das in die Zeit versenkte Subjekt, weil sich im Bewusstsein als Kategorie der Subjektivität der von Kant und Hegel vorskizzierte Begriff der Freiheit wie auch das von Marx und Engels gezeigte Phänomen der Ideologiebildung und die Analyse kapitalistischer Warenproduktion mit dem Tauschmechanismus verknüpfen, worin der Anspruch bürgerlicher Herrschaft abgebildet wird. Deshalb gilt der ungarische Philosoph, neben Karl Korsch, als Neumitbegründer des modernen Marxismus: Nach der Russischen Revolution von 1917 und der Ungarischen Räterepublik (März bis August 1919) als erstem Sowjetstaat, der sich außerhalb der Sowjetunion etablierte und an dessen Konstituierung Lukács als Volkskommissar für das Unterrichtswesen beteiligt war, gewann das Buch während der Weimarer Krisenjahre rasch Einfluss auf Bloch, besagten Korsch, Benjamin, Adorno, Kracauer oder Marcuse. Als Mitbewohner oder Sympathisanten des „Grand Hotel Abgrund“ hatten sie sich in ersten Rezensionen, Essays und Briefen auf die Entfremdungs- und Verdinglichungsproblematik bezogen, weil dadurch die Stellung des Menschen als Subjekt der Geschichte wegen immer perfiderer Ausdifferenzierung kapitalistischer Produktionsverhältnisse beschädigt und gleichzeitig der zeitaktuale Marxismus-Leninismus der III. Internationale als reine Legitimationstheorie staatlicher Gewalt verurteilt wurde.
Die Absicht des Seminars besteht nicht darin, sich mit der weit verzweigten Wirkungsgeschichte des Werkes zu beschäftigen. Stattdessen soll der Erkenntnisweg, den Lukács zur Grundlegung seiner eingreifenden Ethik von der Kantischen Problematik des ‚Dinges an sich‘ bis zur ‚Verdinglichung‘ zurückgelegt hat, begrifflich-textimmanent nachgezeichnet und über die anhängigen hegelianischen, marxistischen und leninistischen Erweiterungen rekonstruiert werden. Dabei ist u. a. zu erörtern, ob das Kantische Sollen fähig ist, auf die Veränderung des Seins einzuwirken, und wie oder ob sich Kants Freiheitsbegriff veräußerlichen lässt, so dass es zur von Lukács politisch erhofften „Tathandlung“ kommen möge, die schließlich den Bruch mit alten Verhältnissen einzuleiten habe. Ferner deutet sich mittels Bezugnahme auf die Geschichtsphilosophie Giambattista Vicos an, dass Lukács aus der Reflexionsphilosophie herauskommen möchte, die noch bei Hegel, trotz stets angewendeter Kategorien der Logik und Dialektik, in der Identität von Denken und Sein feststeckt und das Grundphänomen der Verdinglichung nicht lösen kann, nämlich so, wie es Marx als ein gesellschaftlich produziertes Verhältnis von Gegenständen und Waren charakterisierte.
Die Warenform, zu der menschliche Arbeit und hergestellte Arbeitsprodukte zählen, entpuppt sich als ein gesellschaftliches Verhältnis vieler Produzenten zur Gesamtarbeit und ergibt ein außer ihnen wirkendes Verhältnis von Dingbeziehungen, die wiederum auf die subjektive Bewusstseinsbildung einwirken, so dass werktätige Proletarier im Produktionsprozess zum Zuschauer ihrer Selbst – dem Dingcharakter ihrer Arbeit – erniedrigt werden. Dass die Verdinglichungsstruktur des Kapitalismus und dessen Formen der Potenzierung als die Fähigkeit der Waren und des Geldes erscheinen, die ihren Wert als „zinstragendes Ding“ (Marx) verwerten, führt zu den Gründen, die nach Lukács die Aufhebung und Durchbrechung der „Verdinglichungsschranke“ als unethische Struktur der Bereicherung verlangen. Aber bei Lukács fehlt ein materialistisch unterlegter Begriff der Empirie, wodurch das Problem ausgeklammert wird, dass das empirische Arbeiterbewusstsein nicht dem gewünschten Klassenbewusstsein entspricht (dieses Problem besteht auch noch in Bertolt Brechts Dialektik und Ästhetik fort), wie dies durch die Frankfurter Projektgruppe des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes unter Anleitung von Hans-Jürgen Krahl und Detlev Claussen 1967/68 kritisch herausgearbeitet wurde.
Beim nachvollziehenden Lesen von GuK sollte auch die Frage aufgeworfen werden, ob sich nicht durch Max Webers Wirtschaftsanalysen antiker und frühneuzeitlicher Gesellschaften zugleich der Erlösungsgedanke säkularer Eschatologie in Lukács‘ Reflexionen eingeschrieben hat. Neben den Idealisten, und Marx und Rosa Luxemburg, rückt ein weiterer Intellektueller in unmittelbare Nähe, denn Lukács war während seiner Heidelberger Zeit häufig zu Gast im Sonntagskreis Max Webers gewesen. Nichtsdestoweniger bleibt die Frage nach dem tertium datur: Kann aus Lukács‘ Ableitungen und Konstruktionen eine antinominalistische Ethik weitergedacht werden, die bei der Veräußerlichung des kategorischen Imperativs als kollektives Handeln vorgefundene Produktionsverhältnisse des Tauschwertes auch verändern kann? Echt befreiendes Handeln als Bestimmungsort des mit sich selbst identisch gewordenen Subjekt-Objekt der Geschichte ist angesichts der historischen Erfahrungen und politischen Exzesse des 20. und 21. Jahrhunderts immer wieder neu und dialektisch qua der integrativen Kraft des Marxismus zu erproben, weil er Fragen und Antworten hat, vor allem entwicklungsfähig ist und Richtiges, Wahres und Schönes rezipieren kann, das innerhalb der bürgerlichen Philosophie überliefert ist. Ob deshalb nur Subjekte, die heute weitgehend ohne politische Parteibindung handeln, zugleich jene sind, die begreifen, was zu tun sei, wäre nach Abschluss der Lukács-Lektüre auch hinsichtlich von Bobrowskis Mensch-Gedicht, der gegenwärtigen und widerspruchsvollen Lage der Menschheitsentwicklung, zu besprechen.
Der vergesellschaftete Mensch ist wohl mehr als nur ein bloßes Wort, mehr als ein ohnmächtiges oder verzweifeltes Subjekt, wie es affirmative Meinungsmache einflüstern versucht. Dass Menschlichkeit als Hilfsbereitschaft sich zeigen möge, wenn das Hauss des Nachbarn brennt, war schon das ethische Gebot der stoischen Dichtung und Philosophie des Horaz (tua res agitur) und des Neuen Testaments (Paulus). Möge sie nicht nur so lange anhalten, bis das Feuer der gewaltensamen Verletzung des Souveränitätsrechts gelöscht ist, und zwar überall auf der Erde als aufrechte Haltung, nicht als phobische Abweisung von Nicht-Christen oder Andersgläubigen, Atheisten oder Andershautfarbigen, wie kürzlich dies an der polnischen Grenze, kurz vor der Massenflucht ukrainischer Frauen und Kinder nach völkerrechtswidrig-russischen Raketenangriffen und Landnahmen, geschehen war.
Ob das „Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit“, so wie es der frühe Lukács durch die Brille Johann Gottlieb Fichtes sah, heute vom „Zeitalter des Endes sicherer Gewissheiten“ abgelöst worden ist, muss fraglich bleiben, denn in der Wirklichkeit steckt vergangenes Handeln, und Wendungen sind das Produkt von Widersprüchen und umschlagbaren Konflikten, so wie die Einführung der Demokratie zur Diktatur, oder wie das Einführen der Diktatur zur Demokratie führen kann. Und die Verwirklichung der freien Vernunft ist noch lange nicht Ausdruck emanzipatorischen Klassenbewusstseins, weil nach wie vor nur der eine Kapitalismus von Lohn-, Preis- und Profitbildung existiert und als Fetischcharakter die internationale Warengesellschaft dominiert (s. Preisentwicklung bei Energieressourcen). Der homo oeconomicus und die mit ihm verknüpften wirtschaftlichen und kulturellen Standardisierungsprozesse sind aus der Perspektive des „Kairos verstehender Geschichtsbetrachtung“ (Erich Auerbach in seinem Aufsatz „Philologie der Weltliteratur“ 1952; er gehörte, vor 1914, zur Heidelberger Gruppe von Lukács) noch nicht überwunden. Im Gegenteil, sie haben sich seit der selbstverschuldeten Auflösung des osteuropäischen Staatskapitalismus im Jahr 1989/90 konkurrenzbildend durch die neuentstandene Staatenwelt und Ausdehnung westlicher Überbietungs- und Sicherheitssysteme zugespitzt. Durchaus im Sinne von Bertolt Brecht, dessen ästhetisches Realismus-Konzept Lukács ambivalent kritisierte, sind erneut die „Fragen eines lesenden Arbeiters“ (1935) zu stellen: Wer kochte den Sieges- oder Niederlagenschmaus vergangener und gegenwärtiger Kriege und Konflikte, wer baute die zerstörten Städte wieder auf, und wer bezahlte die Spesen? Wer heute, mit oder ohne Lukács und Brecht im Begleitgepäck mit sich zu führen, durch das provisorische Dasein des Lebens wandert und erneut solche oder ähnliche Fragen stellt, dem ist schon gefühltes „Klassenbewußtsein“ zu attestieren.
Erwartungen: Neugierde, Lust und Interesse, eigenes Lukács-Studium, oder selbstorganisiertes Studium in Kleingruppen als Einarbeitung in den deutschen Idealismus und die Theoretiker des Sozialismus. Regelmäßige Teilnahme ist erwünscht. Zur ersten Sitzung sollten Lukács‘ Texte „Mein Weg zu Marx“ (1933) und die beiden Vorworte (1922, 1967) zu GuK gelesen sein (s. Bibliographie).
Organisationsform: Präsenzlehre nach Gesetzeslage. Lektüre und gemeinsames Seminargespräch. Bei Bedarf: Anfertigung des Leistungsnachweises in Form von Protokollen, Essays, Hausarbeiten oder mündlichen Prüfungen. Bereitstellung der Primär- und Forschungsliteratur in meinem Handapparat der UB (2. Stock). Die ausgewählte Literatur kann günstig über das ZVAB (Zentrales Verzeichnis antiquarischer Bücher) zum Aufbau einer eigenen Studien- und Handbibliothek erworben werden.
Primärliteratur:
Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik [1923], Darmstadt: Luchterhand Literaturverlag [1968], 10. Aufl. 1988 [darin: Vorwort 1922: S. 49-57; Vorwort 1967: S. 5-45].
Ders.: Geschichte und Klassenbewußtsein. Frühschriften II. Bd. 2. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2013 [Nachdruck der von Frank Benseler besorgten Sonderausgabe der Sammlung Luchterhand, 1968 [darin: Vorwort 1922: S.163-169; Vorwort 1967: S. 11-41].
Der.: Autobiographische Texte und Gespräche. Werke Bd. 18. Herausgegeben von Frank Benseler und Werner Jung und Mitarbeit von Dieter Redlich. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2005.
Ders.: Mein Weg zu Marx [1933]. In: Ders.: Werkauswahl Bd. 2. Schriften zur Ideologie und Politik. Ausgewählt und eingeleitet von Peter Ludz. Darmstadt: Luchterhand Verlag 1967, S. 323-329.
Ders.: Sein Leben in Bildern, Selbstzeugnissen und Dokumenten. Zusammengestellt von Éva Fekete und Éva Karádi. Budapest: Corvina Kiadó 1981 [Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1981].
Sekundärliteratur:
Caspers, Britta: Bemerkungen zu Lukács‘ Konzeption einer marxistischen Ethik. In: Bauer, Christoph J./Caspers, Britta/Jung, Werner (Hrsg.) Georg Lukács. Kritiker der unreinen Vernunft, Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2010, S. 161-182.
Cerutti, Furio/Claussen, Detlev/Krahl, Hans-Jürgen/Negt, Oskar, Schmidt, Alfred: Geschichte und Klassenbewußtsein heute (1). Eine Diskussion von 1969. Frankfurt/Main: Materialismus Verlag 1971.
Claussen, Detlev (Hrsg.): Blick zurück auf Lenin. Georg Lukács, die Oktoberrevolution und die Perestroika. Frankfurt/Main: Luchterhand-Literaturverlag 1990.
Engster, Frank: Das Selbstbewusstsein der Ware Arbeitskraft. Lukács‘ Idee einer kommunistischen Revolutionierung des Kapitalismus durch das identische Subjekt-Objekt der Geschichte. In: Benseler, Frank/Dannemann, Rüdiger (Hrsg.): Lukács 2012/2013. Jahrbuch der Internationalen Lukács-Gesellschaft. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2012, S. 123-146.
Kavoulakos, Konstantin: Zur Rekonstruktion der Lukácsschen Geschichtsphilosophie der 20er Jahre. In: Benseler, Frank/Dannemann, Rüdiger (Hrsg.): Lukács 2012/2013. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2012, S. 105-122.
Krahl, Hans-Jürgen: Zu Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein [1967/68]. In: Ders.: Konstitution und Klassenkampf. Schriften und Reden 1966-1970. Frankfurt/Main: Verlag Neue Kritik. 1971, S. 164-181.
Márkus, György: Entfremdung und Verdinglichung. In: Dannemann, Rüdiger (Hrsg.): Georg Lukács – Jenseits der Polemiken. Beiträge zur Rekonstruktion seiner Philosophie. Frankfurt/Main: Seidler Verlag 1986, S. 71-104.
Metscher, Thomas: Ein ungelesenes, unbekanntes Meisterwerk des 20. Jahrhunderts. Gespräch mit Thomas Metscher. In: Dannemann, Rüdiger (Hrsg.): Georg Lukács und 1968. Eine Spurensuche (Sonderband des Jahrbuchs der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft), Bielefeld: Aisthesis Verlag 2009, S. 149-156.
Mesterházi, Miklós: Größe und Verfall des Lukács-Archivs. Eine Chronik in Stichworten. Zugleich ein Nachruf! In: Dannemann, Rüdiger (Hrsg.): Lukács 2016. Jahrbuch der Internationalen Lukács-Gesellschaft. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2016, S 35-60.
Plass, Hanno (Hrsg.): Klasse, Geschichte, Bewusstsein. Was bleibt von Georg Lukács‘ Theorie? Berlin: Verbrecher Verlag 2015.
Ruschig, Ulrich: Zur Aktualität von „Geschichte und Klassenbewußtsein“. In: Meints, Waltraud/Daxner, Michael/Kraiker, Gerhard (Hrsg.) Raum der Freiheit. Reflexionen über Idee und Wirklichkeit. Festschrift für Antonia Grunenberg. Bielefeld: Transkript Verlag 2009, S. 151-171.
Zeitplan:
28. 04. 2022 Allgemeine Einleitung: Mein Weg zu Marx (1933); Vorwort (1922), Vorwort (1967)
26. 04. 2022 Was ist orthodoxer Marxismus (1919)?
03. 05. 2022 Was ist orthodoxer Marxismus?
17. 05. 2022 Ich: Vortrag an der Uni Köln über Erich Auerbachs Vico-Studien (Ihre Aufgabe: Lektüre des Kapitels „Klassenbewußtsein“, 1920)
24. 05. 2022 Klassenbewußtsein
31. 05. 2022 Die Verdinglichung und das Proletariat (1921), speziell das Unterkapitel: Das Phänomen der Verdinglichung
07. 06. 2022 Das Phänomen der Verdinglichung
14. 06 2022 Die Antinomien des bürgerlichen Denkens
21. 06. 2022 Die Antinomien des bürgerlichen Denkens
28. 06. 2022 Der Standpunkt des Proletariats
05. 07. 2022 Der Standpunkt des Proletariats
12. 07. 2022 Der Funktionswandel des historischen Materialismus
19. 07. 2022 Kritische Bemerkungen über Rosa Luxemburgs Kritik der russischen Revolution; Resümee

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