Die philosophische Position des Dialethismus behauptet, dass es mindestens einen wahren Widerspruch (eine sogenannte "dialetheia") gibt. Ein wahrer Widerspruch wäre ein Satz der Form "A und nicht A", der wahr und zugleich falsch ist, also zwei Wahrheitswerte zugleich hat (deshalb "di-aletheia": "zweifache Wahrheit"). Eine starke Motivation für diese Position stellen semantische Paradoxien wie die Lügnerparadoxie dar, in denen tatsächlich formal sowohl die Wahrheit der Proposition A als auch die Wahrheit der Proposition Nicht-A abgeleitet werden kann. Der Dialethismus widerspricht damit allerdings einer philosophischen Position, die seit 2000 Jahren Grundlage der klassischen Logik ist: dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch bzw. in einer philosophischen Welt, die vornehmlich auf Englisch veröffentlicht: dem LNC (Law of Non-Contradiction). Der LNC ist die Position, nach der wahre Widersprüche unmöglich sind, nach der es also keinen einzigen wahren Widerspruch geben kann. Logische Widersprüche seien, so sagt der LNC, nur falsch, aber niemals wahr. Ohne die universelle Gültigkeit des LNC wären Grundprinzipien unseres Sprechens und Denkens, z.B. die Möglichkeit, eindeutig etwas Bestimmtes zu sagen, ohne zugleich auch das Gegenteil mitzusagen, gefährdet. Wer hat nun die besseren Argumente für sich? Der Dialethismus oder die Position des LNC? Um diesen Streit wird es in unserem Seminar gehen.
Literatur:
Zum Einstieg:
Priest, Graham, Francesco Berto, and Zach Weber, "Dialetheism", The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2023 Edition), Edward N. Zalta & Uri Nodelman (eds.), URL = <
https://plato.stanford.edu/archives/sum2023/entries/dialetheism/>. Weiterführende Literatur:
Aristoteles: Metaphysik, Erster Halbband: Bücher I (A) - VI (E), Griechisch-Deutsch. Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz, mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidel, griechischer Text in der Edition von Wilhelm Christ, 3. verbesserte Auflage, Hamburg: Meiner 1989.
Berto, F.: „Absolute Contradiction, Dialetheism, and Revenge“, in: Review of Symbolic Logic 7(2) (2014), 193–207.
Cassin, B., Narcy, M.: La décision du sens – le livre Gamma de la Métaphysique d’Aristote, Paris 1989.
Damschen, Gregor: „Das Prinzip des performativen Widerspruchs. Zur epistemologischen Bedeutung der Dialogform in Platons ‚Euthydemos‘“, in: Méthexis 12 (1999), 89-101.
Dancy, R. M.: Sense and Contradiction, Dordrecht 1975.
Gottlieb, P.: „Aristotle on Non-Contradiction“, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy.
https://plato.stanford.edu/entries/aristotle-noncontradiction/Grim, Patrick: „What is a Contradiction?“, in: Graham Priest, JC Beall, Bradley Armour-Garb, Hrsg.: The Law of Non-Contradiction. New Philosophical Essays, Oxford 2004, 49-72.
Hafemann, B.: Aristoteles’ transzendentaler Realismus, Berlin 1998.
Kirwan, C. A.: Aristotle’s Metaphysics. Books Gamma, Delta, Epsilon, translated with notes by Christopher Kirwan, Oxford: Clarendon 1971.
Łukasiewicz, Jan: „Über den Satz des Widerspruchs bei Aristoteles“, aus dem Polnischen übers. v. J. Barski, mit einem Vorwort v. J.M. Bochénski, in: N. Öffenberger, Hrsg., Zur modernen Deutung der Aristotelischen Logik, Bd. V, Hildesheim 1993.
Priest, Graham: „To be and not to be – that is the answer“, in: Philosophiegeschichte und logische Analyse 1 (1998), 91-130 (jetzt in: Ders., Doubt Truth to be a Liar, Oxford: Oxford U.P. 2006, 7-42).
Priest, Graham: „What’s so bad about contradictions?“, in: Graham Priest, JC Beall, Bradley Armour-Garb, Hrsg.: The Law of Non-Contradiction. New Philosophical Essays, Oxford 2004, 23-38.
Priest, Graham, Beall, JC und Armour-Garb, Bradley, Hrsg.: The Law of Non-Contradiction. New Philosophical Essays, Oxford 2004.
Rapp, C.: „Aristoteles über die Rechtfertigung des Satzes vom Widerspruch“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47 (1993), 521-541.
Roetti, J. A.: „Der Satz vom Widerspruch: dialogische und pragmatische Begründung“, in: N. Öffenberger, A. G. Vigo, Hrsg.: Südamerikanische Beiträge zur modernen Deutung der Aristotelischen Logik, Hildesheim 1997, 49-81.