Ein altes Thema bildete den Ausgangspunkt für das Aufklärungsgespräch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Homers mediterrane Welt des Epos, die von Georg Lukács (1885-1971) und Erich Auerbach (1892-1957) hinsichtlich ästhetisch-transzendentaler Eigenheiten geschichtsphilosophisch, stilistisch, soziologisch und existentiell untersucht worden war. Worin bestehen ideengeschichtlich-systematische Überlappungen und Trennungslinien zwischen beiden Literaturhistorikern und Kulturphilosophen angesichts der bürgerlichen Kulturkrise zwischen Kaiserzeit, Weimarer Republik, dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus und bipolarer Systemkonfrontation nach 1945? Warum steht Homers Dichtung am Anfang philosophischer Reflexion? Worin bestehen die Vor- und Nachteile der Literatur und Philosophie bei der Kennzeichnung fiktional-dargestellter oder tatsächlicher Wirklichkeit? Wie sind Mythos und Ratio als Doppelgesicht der Natur im mimetischen Sprechen und Erzählen miteinander verknüpft, um Rückschlüsse auf die Deutung aktueller Geschehnisse und Möglichkeiten des Noch-Nicht-Seienden anzuzeigen? Welche Sinngebung wird den Irrfahrten im griechischen Archipel bei der Bestimmung des modernen Subjekts im Vergleich mit dem Alten Testament (Isaak-Opfer) beigemessen?
Zu klären sind zudem die von beiden Denkern verwendeten Begriffe wie „Erlebnis“, „Einfühlung“ und „Intuition“, die zunächst der frühe Lukács bei der wesenhaften Bestimmung und Funktion des Essays als Medium kritischer Kunst und Veranschaulichung von Formwerdungsprozessen der menschlichen Seele im Kunstwerk reflektierte. Das Seminar setzt höchst emotionale Segel anhand von Lukács‘ ausgewählten Essays über Kierkegaard, Novalis und Stefan George, die als Auftakt offener Argumentationen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verwurzelung der Dichtung im Leben als großangelegte Synthese gilt. Anschließend thematisiert Lukács‘ Roman-Theorie durch Gegenüberstellung der Totalität in Epik und Dramatik die Philosophie Hegels und problematisiert, dass deren Tendenz im Historisieren ästhetischer Begriffe besteht. Ob Auerbachs antiker, christlicher und moderner Realismus-Begriff, der die Epochenbrüche und verschiedenen Stilhöhen des Erzählens bezeichnet, gleichfalls durch Hegels Ästhetik beeinflusst ist, oder ob nicht vielmehr Vicos Geschichtsphilosophie relevant wurde, wird u. a. auch im Mimesis-Buch anhand erzählerischer Fähigkeiten des Films als Medium raum-zeitlicher Darstellung verdeutlicht. Dabei ist Auerbachs emphatischer Methodenbegriff verstehender Philologie im Zeitalter standardisierter Markt- und Bildungsverhältnisse hervorzuheben und als Kritik bloß werkimmanenter und anti-soziologischer Vorgehensweise zu untermauern.
Voraussetzungen: Lust am Lesen als Interesse an kniffligen, aber hellen essayistischen Texten, regelmäßige Teilnahme und Mut zum Input eigener Diskussionsbeiträge. Die ersten Sitzungen gelten Lukács‘ Seelen- und Romanbuch (s. Bibliographie und Zeitplan). Ein Handapparat aller Texte steht demnächst in der UB zur Verfügung.
Primärliteratur:
Auerbach, Erich: Zur Dante-Feier [1921]. In: Barck, Karlheinz/Treml, Martin (Hgg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen. Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 407-409.
– Giambattista Vico [1922]. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Herausgegeben von Matthias Bormuth und Martin Vialon. Tübingen. Narr Francke Attempto, 2., ergänzte Auflage 2018, S. 377-380.
– Vico [1929]. In: Ebd., S. 381 f.
– Vico und Herder [1932]. In: Ebd., S. 216-225.
– Giambattista Vico und die Idee der Philologie [1936]. In: Ebd., S. 226-234.
– Romantik und Realismus [1933]. In: Ebd., S. 383-392.
– Die ernste Nachahmung des Alltäglichen [1937]. In: Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, S. 439-465.
– Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946]. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag, 11. Auflage 2015.
– The three traits of Dante’s poetry [1948]. In: Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, S. 414-425.
– Philologie der Weltliteratur [1952]. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze hur romanischen Philologie, S. 291-299.
Lukács, Georg: Tagebuch [1910/1911]. In: Ders.: Werke. Autobiographische Texte und Gespräche. Herausgegeben von Frank Benseler und Werner Jung unter Mitarbeit von Dieter Redlich. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2005, S. 1-32.
– Die Seele und die Formen. Essays [1910/1911] In: Ders.: Werke Band 1 (1902-1918). Teilband 1 (1902-1913). Herausgegeben von Zsuzsa Bognár, Werner Jung und Antonia Opitz. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2017, S. 193-378 (darin: Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper [1910], S. 195-212; Das Zerschellen der Form am Leben: Sören Kierkegaard und Regine Olsen, S. 221-234; Zur romantischen Lebensphilosophie: Novalis, S. 235-247; Die neue Einsamkeit und ihre Lyrik: Stefan George, S. 272-284; Sehnsucht und Form: Charles-Louis Philippe, S. 284-299; Metaphysik der Tragödie, S. 343-366)
– Die Seele und die Formen (Sonderausgabe der Sammlung Luchterhand). Neuwied, Berlin: Hermann Luchterhand Verlag 1971 (Sammlung Luchterhand 21).
– Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1916/1920]. In: Ders.: Werke Band 1 (1902-1918) Teilband 2 (1914-1918). Herausgegeben von Werner Jung und Antonia Opitz. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2018. S. 527-617.
– Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Form der großen Epik [1916/1920]. Frankfurt/Main: Luchterhand Literaturverlag 121989.
– Mein weg zu Marx [1933]. In: Ders.: Werke. Autobiographische Texte und Gespräche, S. 37-40.
Forschungsliteratur:
Barck, Karlheinz/Treml, Martin (Hgg.): Erich Auerbach: Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen. Berlin: Kadmos Verlag 2007.
Bognár, Zsuzsa: Georg Lukács‘ Essayband Die Seele und die Formen im Kontext des frühromantischen Ironie-Diskurses. In: Benseler, Frank/Jung, Werner (Hgg.): Lukács 2005. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2005, S. 201-217.
Busch, Walter/Pickerodt, Gerhard (Hgg.): Wahrnehmen, Lesen, Deuten. Erich Auerbachs Lektüre der Moderne. Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann Verlag 1998.
Dannemann, Rüdiger: Ursprünge radikalen Philosophierens beim frühen Lukács. Chaos des Lebens und Metaphysik der Form. In: Benseler, Frank/Jung, Werner (Hgg.): Lukács 2006/2007. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft. 10./11. Jg. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2007, S.41-55
Dannemann, Rüdiger/Meyzaud, Maud/Weber, Philipp (Hgg.): Hundert Jahre „transzendentale Obdachlosigkeit“. Georg Lukács‘ Theorie des Romans neu gelesen. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2018.
Hacohen, Malachi Haim: Jacob & Esau. Jewish European History between Nation and Empire. Cambridge, New York: Cambridge University Press 2019. ween Nation and Empire.
Hebing, Niklas: Unversöhnbarkeit. Hegels Ästhetik und Lukács‘ Theorie des Romans. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2009.
Heller, Ágnes: Die Seele und die Formen – Studien zum frühen Lukács. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1977.
– Bei Gelegenheit von … Die Seele und die Formen. In: Benseler, Frank/Dannemann, Rüdiger (Hgg.): Lukács 2012/2013. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2012, S. 225-240.
Jung, Werner: Georg Lukács. Stuttgart: Metzler Verlag 1989.
– Von der Utopie zur Ontologie. Zehn Studien zu Georg Lukács. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2001.
– Die Zeit – das depravierende Prinzip. Kleine Apologie von Georg Lukács‘ Romanpoetik. In: Benseler, Frank/Jung, Werner (Hgg.): Lukács 2006/2007. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2007, S. 57-72.
– Das frühe Werk. In: Georg Lukács: Werke Band 1 (1902-1918). Teilband 2 (1914-1918). Herausgegeben von Zsuzsa Bognár, Werner Jung und Amntonia Opitz. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2018, S. 815-853.
Keller, Ernst: Der junge Lukács. Antibürger und wesentliches Leben. Literatur- und Kulturkritik 1902-1915. Frankfurt/Main: Sendler Verlag 1984.
Kiening, Christian: Weltphilologie. Göttingen: Wallstein Verlag 2025.
Lerer, Seth (Ed.): Literary History and the Challenge of Philology. The Legacy of Erich Auerbach. Stanford: Stanford University Press 1996.
Löwy, Michael: Der junge Lukács und Dostojewski. In: Dannemann, Rüdiger (Hg.): Georg Lukács. Jenseits der Polemiken. Beiträge zur Rekonstruktion seiner Philosophie. Frankfurt/Main: Sendler Verlag 1986, S. 23-37.
Porter, James I.: Disfigurations. Erich Auerbach’s Theory of Figura. In: Critical Inquiry, Vol. 44, 2017, S. 80-113.
– Was ist ‚jüdische Philologie‘? In: Lemke, Anja (Hg.): ‚Leib der Zeit‘. Ansätze und Fortschreibungen Erich Auerbachs. Göttingen: Wallstein Verlag 2024, S. 213-241
Sayre, Robert/Löwy, Michael: Die (antikapitalistische) Romantik in der Theorie des Romans. In: Dannemann, Rüdiger (Hg.): Lukács 2016. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2016, S. 145-162.
Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Georg von Lukács. Heidelberger Ästhetik – Auf dem Weg zur ‚Theorie des Romans‘. Briefwechsel mit Leopold Ziegler. [1911-1916] Karlsruhe: G. Braun Buchverlag 2010.
Vialon, Martin: „Die Katastrophen des Jahrhunderts haben es bewirkt, dass ich nirgends hingehöre…“. Erich Auerbach als Literatursoziologe und Autor von Mimesis. In: Offener Horizont. Jahrbuch der Karl Jaspers-Gesellschaft (Band 4). Herausgegeben von Matthias Bormuth. Göttingen: Wallstein Verlag 2017, S. 118-130 [meine dazugehörigen Editionen: Fredrik Böök: Erich Auerbach und sein meisterliches Werk Mimesis (1947); Erich Auerbach: Ein Brief an Fredrik Böök (11.10.1947); Erich Auerbach: Das französische Publikum im 17. Jahrhundert (1936). Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe, S. 131-148].
– Erich Auerbach: Philologie als kritische Kunst. Neue Einleitung zur Scienza Nuova (1947) – Edition, Kommentar und Nachwort. In: Peter König (Hg.): Vico in Europa zwischen 1800 und 1950, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2013, S. 223-319.
– Erich Auerbachs Mimesis-Brief an Fritz Strich (1948) im Kontext ästhetisch-widerständiger Formgebung als Lebensprinzip. In: Christoph C. Bauer/Britta Caspers/Werner Jung (Hgg.): Georg Lukács. Totalität, Utopie und Ontologie, Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2012, S. 133-179.
– Trost und Helle für eine „neue Menschlichkeit“ – Erich Auerbachs türkisches Exilbriefwerk. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 2010, Göttingen: Wallstein Verlag 2011, S. 18-47.
– The Scars of Exile: Paralipomena concerning the Relationship between History, Literature and Politics – demonstrated in the Examples of Erich Auerbach, Traugott Fuchs, and their Circle in Istanbul. In: Yeditepe’de Felsefe 2. A refereed Yearbook, Istanbul: T. C. Yeditepe Üniversitesi Yayinlari, July 2003, S. 191-246.
Zeitplan:
08. 04. 2025 Einführung, Lukács: Die Seele und die Formen (1911, Kap.: Über das Wesen und die Form des Essays: Ein Brief an Leo Popper)
15. 04. 2025 Lukács: Die Seele und die Formen (Kap.: Über das Wesen und die Form des Essays; Das Zerschellen der Form: Sören Kierkegaard und Regine Olsen)
22. 04. 2025 Lukács: Die Seele und die Formen (Kap.: Zur romantischen Lebensphilosophie: Novalis; Die neue Einsamkeit und ihre Lyrik: Stefan George)
29. 04. 2025 Lukács: Die Seele und die Formen (Kap.: Sehnsucht und Form: Charles-Louis Philippe; Metaphysik der Tragödie: Paul Ernst)
06. 05. 2025 Lukács: Theorie des Romans (1916, Kap. I., 1-5)
13. 05. 2025 Lukács: Theorie des Romans (Kap. I., 1-5)
20. 05. 2025 Lukács: Theorie des Romans (Kap. II, 3-4)
27. 05. 2025 Auerbach: Giambattista Vico (1922); Vico (1929); Vico und Herder (1932); Romantik und Realismus (1933); Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts (1933)
03. 06. 2025 Lukács: Mein Weg zu Marx (1933); Auerbach: Die ernste Nachahmung des Alltäglichen (1937)
10. 06. 2025 Auerbach: Mimesis (1946, Kap. Die Narbe des Odysseus)
17. 06. 2025 Auerbach: Mimesis (Kap. Die Verhaftung des Petrus Valomeres; Farinata und Cavalcante); The three traits of Dante’s poetry (1948)
24. 06. 2025 Auerbach: Mimesis (Kap. Der Scheinheilige; Der braune Strumpf)
01. 07. 2025 Auerbach: Philologie der Weltliteratur (1952)
08. 07. 2025 Auerbach: Philologie und Weltliteratur, Abschlussgespräch