Blicken wir heute auf die im Dreck der Wegesränder ohne Wasser und medizinische Hilfe vegetierenden Schutzsuchenden von Moria, gelegen auf der griechischen Insel Lesbos, so verliert Europa gerade seine moralischen Werte! Die Würde und Freiheit des Menschen sind antastbar geworden, indem sie als Freibrief zur Abschreckung im Kontext steigender Abwertungsprozesse von Fremdheit instrumentalisiert werden. Das Lager Moria, als erfundene Grenze, Freilandgefängnis und Labor der Unmenschlichkeit errichtet, ist eine Schande, die zum Achtungs- und Ehrfurchtsverlust vor dem menschlich-kreatürlichen Leben beiträgt. Als politisches Kalkül und Bruch mit der Moralität konstruiert, werden so nicht nur fremdenfeindliche Bewusstseinsstrukturen und Haltungen, sondern auch entsprechende Praxen befördert.
Daher ist vordringlich zu fragen, was diese Momentaufnahme europäischer Wirklichkeit mit dem Dreigestirn Lessing (1729-1781), Kant (1724-1804) und Schiller (1759-1805) als Repräsentanten des unverfälscht überlieferten Wertekanons zu tun hat, auf den sich politisch Handelnde in hehren, aber folgenlosen Worten oft beziehen? Es bildet eine Konstellation der deutschen Aufklärung, die ohne die Einflüsse der französischen Philosophie und bürgerlichen Revolution von 1789 nicht verstehbar ist. Die zur Rede stehenden Begriffe „Würde und Freiheit“ reflektieren auf gedankenvolle Weise den kämpferischen Tatendrang des gallischen Hahns.
Lessing, der erste freie deutsche Schriftsteller und Autor des jüdisch-christlich-muslimischen Ideen- und Toleranzdramas „Nathan der Weise“ (1779), zudem Philologe, Geschichtstheoretiker und Bibliothekar, begründete zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft in seinen religionskritischen Schriften und philosophischen Dialogen die subjektive Notdürftigkeit natürlich-religiöser Erfahrung. Spinozas kritische Textmethodik aufnehmend, hatte Lessing die historisch-hermeneutische Interpretation des Alten und Neuen Testaments fortgeführt und so einen der wichtigsten Bausteine zur Dialektik der Säkularisierung geliefert.
Aufklärung nicht als Selbstbetrug, sondern als individuelle und im gemeinsamen Dialog zu lösende Aufgabe zu begreifen, war die Sache Kants, die mit dem Begriff des „sapere aude“, dessen griechisch-biblisch-römischer Vorgeschichte, dem kategorischen Imperativ und Konzept des Weltbürgertums verknüpft bleiben. Unmittelbar anknüpfend an Kant, hatte Schiller in seinen ästhetischen Erziehungsbriefen (1795) eine, wie er sagte, „materialistische Sittenlehre“ vorgelegt, die das Verhältnis von Individuum und Staat neu gliederte und das feudalistische Ancien Régime deutscher Fürstentümer zum Einsturz zu bringen trachtete. Mittels sinnlicher Erziehung, die zur Stärkung des Empfindungsbewusstseins führt und unter Zuhilfenahme von Jean-Jaques Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ (1762), konzipierte Schiller die künftige Verfasstheit der Gesellschaft, worin der alte, willkürliche „Notstaat“ abgeschafft und durch das interagierende Ensemble freier Individuen eine neue Verkehrsform erhalten sollte. Dabei bestätigen und befördern sich die ästhetische und ethisch-moralische Bestimmung des Menschen in der Idee des Schönen als Ausdruck des Willens, woraus das sittliche Handeln als Grund der Freiheit erwächst: Empfindung und Vernunft machen den Menschen zum Menschen. Den Auftakt zur Herausarbeitung von intellektuellen Konvergenzen und Divergenzen des Dreigestirns bildet Lessings platonisches Freimaurergespräch „Ernst und Falk“ (1779), worin der Gedanke vom idealen Staat und politischem Handeln als Herstellung des sozial-politischen Gleichgewichts innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft vorweggenommen wurde.
Voraussetzungen: Lust und Appetit, sich auf erfrischende und impulsgebende Argumentationen zum Selbstdenken einzulassen. Alle Texte stehen in meinem Seminar-Handapparat (UB) bereit. Lessings „Ernst und Falk“ (s. Bibliographie und Zeitplan) sollte zur Anbahnung der ersten Sitzung gelesen sein.
Primärtexte:
Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [1784] In: Ders.: Ausgewählte kleine Schriften. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1969, S. 1-9.
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht [1784]. In: Ebd., S. 27-44.
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785]. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Bd. IV. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 11-102.
Lessing, Gotthold Ephraim: Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer [1778]. In: Ders.: Werke. Achter Band. Theologiekritische Schriften III. Philosophische Schriften. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guttke, Gerd Hillen, Albert von Schirnding und Jörg Schönert herausgegeben von Herbert G. Göpfert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 451-488.
Die Erziehung des Menschengeschlechts [1780]. In: Ebd., S. 489-510.
Schiller, Friedrich: Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen [1780]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Fünfter Band: Erzählungen/Theoretische Schriften. München: Carl Hanser Verlag, 71984, S. 289-324.
Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen [1795]. In: Ebd., S. 570-669.
Forschungsliteratur:
Brandt, Reinhard: Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2007.
Irrlitz, Gerd: Kant-Handbuch. Leben und Werk. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler Verlag 2010.
Krauss, Werner: Über die Konstellation der deutschen Aufklärung [1961]. In: Ders.: Das wissenschaftliche Werk 7. Aufklärung III. Deutschland und Spanien. Herausgegeben von Martin Fontius. Textrevision und editorische Anmerkungen von Renate Petermann und Peter-Volker Springborn. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1996, S. 5-99.
Lessing: Epoche – Werk – Wirkung. Von Wilfried Barner, Gunter Grimm, Helmuth Kiesel, Martin Kramer und Mitwirkung von Volker Badstübner und Rolf Kellner. München: C. H. Beck Verlag, 4. Auflage 1981.
Safranski, Rüdiger: Friedrich Schiller oder die Erfindung des deutschen Idealismus. München: Carl Hanser Verlag 2004.
Vorländer, Karl: Kant – Schiller – Goethe. Gesammelte Aufsätze. Leipzig: Verlag der Dürr’schen Buchhandlung 1907.
Vollhardt, Friedrich: Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk. Göttingen: Wallstein Verlag 2018.
Zeitplan:
19. 10. 2020 Einführung; Lessing: Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer (1778).
26. 10. 2020 Lessing: Ernst und Falk.
02. 11. 2020 Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780).
09. 11. 2020 Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts.
16. 11. 2020 Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784).
23. 11. 2020 Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
30. 11. 2020 Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784).
07. 12. 2020 Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.
14. 12. 2020 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785).
21. 12. 2020 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
11. 01. 2021 Schiller: Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780).
18. 01. 2021 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795).
25. 01. 2021 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen.
01. 02. 2021 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen; Abschlussgespräch.