Naturerkenntnis und Kulturkritik: Ralph Waldo Emerson und David Henry Thoreau
Die beiden Begriffe „Naturerkenntnis“ und „Kulturkritik“ miteinander zu verknüpfen, so dass die existentiell-praktische und metaphysische Verhältnisbestimmung der Bedingungen des gesellschaftlichen Seins nachvollziehbar werden können, markieren den Ansatzpunkt der Lehrveranstaltung. Beide Termini sind nicht dem Erörterungsgegenstand willkürlich aufgepfropft worden, sondern den denkend-dichterischen und dichterisch-denkenden Positionen von Emerson (1803-1882) und Thoreau (1817-1862) entnommen. Als Mitbegründer der amerikanischen Renaissance im 19. Jahrhundert hatten sie das humanistische Erbe Europas im Sinne einer translatio studii aufgriffen, aber auch formbildend durch philosophisch-poetische Kritik und daraus folgenden Verwerfungen gegenüber staatlichen Verkrustungen verändert.
Emerson und Thoreau gründeten in Concord, gelegen an der Ostküste im Bundesstaat Massachusetts, dem amerikanischen Gegenstück zu dem durch Wieland, Herder, Goethe und Schiller idealistisch konzipierten Fürsten- und Erziehungshof von Weimar, ein demokratisches Denkzentrum, in dem die Abschaffung der Sklaverei schon vor dem Sezessionskrieg gefordert, die transzendentale Bestimmung der Freiheit vorgenommen, ästhetische Diskurse über christlich-unitaristische Tendenzen innerhalb der Grenzen der Religion geführt oder ein phänomenologischer Natur-, Sprach- und Wissenschaftsbegriff als umfassendes Modernekonzept entwickelt wurde, an dem auch der Dichter Walt Whitman großen Anteil hatte.
Im Kontext der Vernichtung indianischer Kulturen, expansiver Landnahme und Industrialisierung waren alternative Lebensformen wie Thoreaus schriftstellerische Einsiedelei am Walden Pond oder Selbstverwirklichungsprojekte in nachhaltigen Landkommunen entstanden. Emerson und seine Freunde schrieben und sprachen über philosophisch-literarische Erziehungskonzepte, feministische Ideen (Margret Fuller) und praktizierten naturverbundene Lebensstile (u. a. kontemplative Wanderungen in den Wäldern Neuenglands), wodurch intellektuell weitreichende Anstöße für spätere politische Akteure wie die amerikanische Bürgerrechts-, Studenten- und Hippiebewegung, den libertären Anarchismus, die Occupy-Solidarität oder Black Lives Matter erfolgten.
Kurzum: Besonders das Nature Writing als literarisch-philosophische Gattung nicht-fiktionaler Naturbeschreibung als Mischung aus Naturgeschichte und Naturphilosophie bezieht sich auf die ökologische Lebensweise der indianischen Ureinwohner von Maine und konfrontiert die Entwicklung der Holzökonomie mit den urtümlichsten Orten jener Jägervölker der Wildnis, die noch im Einklang mit der Flora und Fauna ausgedehnter Fluss-, Seen und Waldlandschaften lebten, in denen große Säugetiere wie Elche, Wölfe, Hirsche und seltene Vogelarten vorkommen.
Ob und wie Natur als Subjekt eigenen Rechts und demokratische Kultur als kreative Mittel des Zoon politikon aufzufassen seien und sich zu einer ethischen Synthese verdichten, wird anhand literarisch-philosophischer Gattungen von Traktaten, Vorträgen, Tagebucheinträgen und Essays untersucht. Leidenschaftliche Stimmen und anschaulich-poetische Denkbilder der „Kinder des Waldes“ (Emerson) sprechen zu uns in einer von Infantilismus, multiplen Krisen und Krieg geprägten Zeit. Gleichsam spiegelbildlich erzählen Emerson und Thoreau, dass technologische Fortschrittsideologie und anarchische Wirtschaftsweise allen Lebewesen den Garaus machten und keine Erlösung von den Grundübeln der Egomanie, Gier und Gleichgültigkeit bietet. Von den Algorithmen ihrer Zeit – dem Summen neuer Telegraphenkommunikationsleitungen entlang der Eisenbahnlinien – waren Emerson & Co genauso wie vom langsummenden Balzruf des dämmerungsaktiven Goat Milker (Ziegenmelker, Familie der Caprimulginae) fasziniert. Aber beide Denker erkannten die Zunahme unsinnlicher Ähnlichkeit des Menschen mit sich selbst und formulierten einen fundamentalen Kulturwandel, indem durch die Verbindung von Natur und Geist ein neues moralisches Gesetz entsteht. Im Kern beruht es auf der von antiken, religiösen und humanistischen Vorbildern (Anaximander, Platon, Paulus, Montaigne, Goethe) begründeten Achtung der Kreatur und dem zweckdienlichen Zusammenwirken aller natürlich-organischen Teile des Kosmos, worin sich die symbiotische Nutzbarkeit und Dienlichkeit der Natur als sich selbst stabilisierendes Apeiron erweist. Der Mensch ist nur ein Teil, nicht Herr der Natur, denn er hat sich den dynamisch wiederkehrenden Naturprozessen einzuordnen.
Voraussetzungen und Organisationsform: Lust und Freude am Lesen und gemeinsamer Austausch über die ausgewählten Texte. Vorbereitende Lektüre von Emersons Essay „Natur“ (s. Bibliographie) für die erste Seminarsitzung. Die selbständige Aneignung der primären Literaturliste ist relevant; besonders eigenen sich auch Emersons und Thoreaus Tagebücher zum Einstieg in das Thema, und die ausgewählte Forschungsliteratur kann bei der Abfassung von Leistungsnachweisen herangezogen werden und das vertiefende Textverständnis anregen. Alle Texte sind über meinen in der UB eingestellten Handapparat zugänglich. Ratsam ist es, sich eine eigene Handbibliothek aufzubauen; die angegebenen Texte sind im Buchhandel, bei „antiquariat.de“ oder im „Zentralen Verzeichnis antiquarischer Bücher“ (ZVAB) erhältlich. Absprachen von Essays, Hausarbeiten oder akademischen Abschlussarbeiten (Bachelor, Master) sind willkommen.
Primärliteratur:
Emerson, Ralph Waldo: Natur [1836]. Herausgegeben und aus dem Amerikanischen übertragen von Harald Kiczka. Mit einem Nachwort auf Emerson von Hermann Grimm. Zürich: Diogenes Verlag 2003.
– Repräsentanten der Menschheit [1850]. Sieben Essays. Aus dem Amerikanischen von Karl Federn. Mit einem Nachwort von Egon Friedell. Zürich: Diogenes Verlag 1989.
– Drei Ansprachen über Bildung, Religion und Henry David Thoreau. Aus dem Englischen von Heiko Fischer. Freiburg. i. Br.: Derk Janßen Verlag 2007.
– Tagebücher 1819-1877. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Jürgen Brôcan. Berlin: Matthes & Seitz 12022.
Thoreau, Henry David: Das wiederzugewinnende Paradies [1843]. In: Ders.: Leben ohne Grundsätze. Ausgewählte Essays. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Peter Kleinhempel und Peter Meier. Auswahl und Nachwort von Utz Riese. Anmerkungen von Brigitte Leuschner. Leipzig, Weimar: Gustav Kiepenhauer Verlag 1986, S. 53-75.
– Ktaadn [1846/64]. Mit einem Essay von Ralph Waldo Emerson. Aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. Salzburg, Wien: Jung und Jung Verlag 2017.
– Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat [1849]. Übersetzung, Nachwort und Anmerkungen von Walter E. Richartz. Zürich: Diogenes Verlag 1973.
– Chesuncook [1853/58]. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. Salzburg: Jung und Jung Verlag 2022.
– Leben ohne Prinzipien [1854]. In: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, S. 37-62 (oder auch die Einzeledition: Leben ohne Grundsätze. In der Übersetzung von Peter Kleinhempel, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Frank Schäfer. Innsbruck Limbus Verlag 2017).
– Walden oder Leben in den Wäldern [1854]. Aus dem Amerikanischen von Emma Emmerich und Tatjana Fischer. Mit einem Vorwort von Walter E. Richartz. Zürich: Diogenes Verlag 2015.
– Wilde Äpfel [1859]. In: Lob der Wildnis. Aus dem amerikanischen Englisch von Esther Kinsky. Berlin: Matthes & Seitz 2014, S. 61-101.
– Vom Spazieren [1862]. Ein Essay aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Zürich: Diogenes Verlag 2004.
– Tagebuch I [1837-1842]. Aus dem amerikanischen Englisch von Rainer G. Schmidt. Berlin: Matthes & Seitz 2017; Tagebuch II [1843-1850], 2017; Tagebuch III [1851], 2018.
Forschungsliteratur:
Auster, Paul: Mit Fremden sprechen. Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren. Herausgegeben von Laurenz Bolliger. Übersetzt von Werner Schmitz, Marion Sattler Charnitzky, Robert Habeck, Alexander von Pechmann. Hamburg Rowohlt Verlag 2020.
Curtius, Ernst Robert: Emerson. In: Ders.: Kritische Essays zur europäischen Literatur [1950]. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1984, S. 120-137.
Graeber, David: Anarchie – oder was? Gespräche mit Mehdi Belhaj Kacem, Nika Dubrovsky und Assia Turquier-Zauberman. Aus dem Englischen von Sabine Schulz. Zürich: Diaphanes 2020.
Harrison, Robert Pogue: Wälder: Ursprung und Spiegel der Kultur. Übersetzt aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. München, Wien: Hanser Verlag 1992.
– [Review] John Matheson: The Lives of Margret Fuller. New York: Norton & Company 2012. In: The New York Review, 25. 4. 2013.
– [Review] Megan Marhall: Margret Fuller: A New American Life. Boston: Houghton Mifflin Hartcourt 2013. In: The New York Review, 25. 4. 2013.
– [Review] Selected Journals, 1820–1842 by Ralph Waldo Emerson, edited by Lawrence Rosenwald, Library of America, 910 pp.; Selected Journals, 1841–1877 by Ralph Waldo Emerson, edited by Lawrence Rosenwald. In: The New York Review, 28. 10. 2010.
– [Review] Henry David Thoreau: A Life by Laura Dassow Walls. University of Chicago Press, 615 pp.; Walden by Henry David Thoreau, with an introduction and annotations by Bill McKibben. Beacon, 312 pp.; Expect Great Things: The Life and Search of Henry David Thoreau by Kevin Dann. Tarcher Perigee, 387 pp.; Thoreau’s Animals by Henry David Thoreau, edited by Geoff Wisner and illustrated by Debby Cotter Kaspari. Yale University Press, 256 pp.; Thoreau and the Language of Trees by Richard Higgins, with a foreword by Robert D. Richardson and photographs by Richard Higgins. University of California Press, 230 pp.; The Boatman: Henry David Thoreau’s River Years by Robert M. Thorson. Harvard University Press, 315 pp.; This Ever New Self: Thoreau and His Journal. An exhibition at the Morgan Library and Museum, New York City, June 2–September 10, 2017; and the Concord Museum, Concord, Massachusetts, September 29, 2017–January 21, 2018; When I Came to Die: Process and Prophecy in Thoreau’s Vision of Dying by Audrey Raden. University of Massachusetts Press, 156 pp.; Bird Relics: Grief and Vitalism in Thoreau by Branka Arsić. Harvard Universtiy Press, 455 pp.; Thoreau’s Wildflowers by Henry David Thoreau, edited by Geoff Wisner and illustrated by Barry Moser. Yale University Press, 300 pp. In: The New York Review, 17. 8. 2017.
Krusche, Thomas: Ralph Waldo Emersons Naturauffassung und ihre philosophischen Ursprünge. Eine Interpretation des Emersonschen Denkens aus dem Blickwinkel des deutschen Idealismus. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1987.
Matthiessen, Francis Otto: Amerikanische Renaissance. Kunst und Ausdruck im Zeitalter Emersons und Thoreaus [1941]. Deutsch von Friedrich Thein. Wiesbaden: Metopen-Verlag 1948.
Park, Benjamin E.: Transcendental Democracy: Ralph Waldo Emerson’s Political Thought, the Legacy of Federalism, and the Ironies of America’s Democracy. In: Journal of American Studies, Vol. 48, 2, 2014, pp. 481-500.
Rorty, Richard: Achieving Our Country. Leftist Thought in Twentieth-Century America. Cambridge: Harvard University Press 1998.
Schäfer, Frank: David Henry Thoreau: Waldgänger und Rebell. Eine Biographie. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017.
Weinberger, Eliot: Neulich in Amerika. Herausgegeben von Beatrice Faßbender. Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender, Eike Schönfeld und Peter Torberg. Berlin: Berenberg Verlag 2020.
Zeitplan:
17. 10. 2023 Einführung: Emerson: Natur (1836)
24. 10. 2023 Emerson: Natur
31. 10. 2023 Emerson: Natur
07. 11. 2023 Emerson: Drei Ansprachen (Der amerikanische Gelehrte, 1837)
14. 11. 2023 Emerson: Drei Ansprachen (Der amerikanische Gelehrte, 1837)
21. 11. 2023 Emerson: Emerson: Drei Ansprachen (Rede an der theologischen Fakultät der Universität Harvard, 1838)
28. 11. 2023 Emerson: Drei Ansprachen (Rede an der theologischen Fakultät der Harvard Universität, 1838)
05. 12. 2023 Thoreau: Das wiederzugewinnende Paradies (1843)
12. 12. 2023 Thoreau: Ktaadn (1846/64)
19. 12. 2023 Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (1849)
09. 01. 2024 Thoreau: Chesuncook (1853/58)
16. 01. 2024 Thoreau: Leben ohne Prinzipien (1854)
23. 01. 2024 Thoreau: Vom Spazieren (1862)
30. 01. 2024 Thoreau: Vom Spazieren, Abschlussgespräch