IIn den meisten philosophiehistorischen Darstellungen werden die philosophischen Entwürfe Husserls und Heideggers als unvereinbare Gegensätze präsentiert, die sich aus einem radikal unterschiedlichen Verständnis dessen speisen, was Phänomenologie ist bzw. sein soll. Als Hauptargument wird dabei in der Regel darauf verwiesen, dass Husserl von einem transzendentalphilosophischen Bewusstseinsbegriff ausgehe, der von allen empirisch-faktischen Elementen gereinigt sei und so als überkontingente Universalstruktur erscheine. Demgegenüber habe Heidegger durch seine Betonung der Faktizität, Zeitlichkeit und Sterblichkeit des Daseins die Phänomenologie auf einen grundlegend anderen Boden gestellt und sie radikal verendlicht.
Diese Einschätzung ist zwar nicht falsch, erscheint aber doch zu einseitig, wenn man Husserls und Heideggers Ansätze näher betrachtet. Auch wenn sie durchaus unterschiedliche Vorstellungen von Wesen und Aufgabe der Phänomenologie haben, kommen sie doch darin überein, dass sie den überlieferten philosophischen Begriff vom Menschen in radikaler Weise problematisieren und ihn vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen phänomenologischen Ansätze neu zu denken versuchen. Die aristotelische Definition des Menschen als animal rationale und seine biblische Bezeichnung als „Bild Gottes“ werden dabei ebenso in Frage gestellt wie seine neuzeitliche Bestimmung als Person und Individuum sowie das daran anknüpfende Verständnis von Anthropologie und Humanismus. So unterschiedlich Husserls und Heideggers philosophische Ansätze im Einzelnen auch sind, so kommen sie doch darin überein, dass sie auf je eigene Weise auf eine – positiv zu verstehende – „Entmenschung des Menschen“ (Eugen Fink) hinauslaufen. Mit anderen Worten: Die vermeintliche Selbstverständlichkeit dessen, was Menschsein bedeutet, muss prinzipiell in Frage gestellt und auf ihren mehr-als-menschlichen Möglichkeitsgrund zurückgeführt werden.
Das Seminar stellt sich die Aufgabe, anhand ausgewählter Primärtexte von Husserl und Heidegger die Gründe für ihre anthropologiekritischen bzw. humanismuskritischen Positionen herauszuarbeiten und sie auf ihre Aktualität für die gegenwärtige philosophische Diskussion zu befragen.
Primärtexte: Eine Auswahl von Textauszügen aus Husserls und Heideggers Werken wird auf der Lernplattform online bereitgestellt.
Sekundärliteratur:
- Wolfgang Welsch, Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie, Berlin, Akademie Verlag, 2011.
- Gerhard Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart, Metzler, 2001.
- Christian Sternad / Günther Pöltner (Hgg.), Phänomenologie und philosophische Anthropologie, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2011.
- Alfred Denker / Holger Zaborowski (Hgg.), Heidegger und der Humanismus, Freiburg / München, Alber, 2017.
- Ralf Becker, Der menschliche Standpunkt: Perspektiven und Formationen des Anthropomorphismus, Frankfurt a. M., Klostermann, 2011.
- Axel Beelmann, Die Krisis des Subjekts: Cartesianismus, Phänomenologie und Existentialanalytik unter anthropologischen Aspekten, Bonn, Bouvier, 1990.
- Gavin Rae, „Re-Thinking the Human: Heidegger, Fundamental Ontology, and Humanism“, Human Studies: A Journal for Philosophy and the Social Sciences 33,1 (2010), 23-39.
- Bence Péter Marosán, „Transzendentale Anthropologie. Sinnbildung, persönliches Ich und Selbstidentität bei Edmund Husserl und ihre Rezeption in László Tegelyis phänomenologischer Metaphysik“, Horizon 5,1 (2016), 150-170.
- Sebastian Luft, „Husserl’s concept of the ‚transcendental person’: Another look at the Husserl-Heidegger relationship“, International Journal of Philosophical Studies 13,2 (2005) 141-177.
- Alessandro Duranti, „Husserl, intersubjectivity and anthropology“, Anthropological Theory 10 (2010), 16-35.
- Jean-Claude Monod, „L’‚interdit anthropologique’ chez Husserl et Heidegger et sa transgression par Blumenberg“, Revue Germanique Internationale 10 (2009), 221-236.