Natur und Kunst sind die beiden Wesensbereiche, die Goethes Betätigung als Forscher, Dichter und Philosoph ausmachen. Das Genre des Reiseberichts, Essays, Gedichts und der Aphorismus sind die Formen, in denen sich seine gesellschaftsstiftende Natur- und Kunstanschauung ausdrücken. Es geht u. a. darum, Goethes Spinozismus und seine Morphologie- und Entelechie-Vorstellung nachzuzeichnen, das Zusammenspiel von Induktion und Deduktion als methodologisches Gerüst gegenständlichen Denkens festzustellen und die erste und zweite Natur als sich im Kunstwerk wiedererkennende Wirklichkeit poetischer Einbildungskraft „erborgten Daseins“ zu begreifen.
Dass Goethe äußerst widersprüchlich gegenüber der deutschen Gesellschaft seiner Zeit aufgetreten sei, ist eine von Friedrich Engels (1820-1895) in seinem Essay „Deutscher Sozialismus in Versen und Prosa“ (1847) gelegte Spur, die aufzunehmen lohnend ist: „Bald ist er [Goethe, M. V.] ihr [der deutschen Gesellschaft, M. V.] feindselig; er sucht der ihm widerwärtigen zu entfliehen wie in der ‚Iphigenie‘ und überhaupt während der italienischen Reise, er rebelliert gegen sie als Götz, Prometheus und Faust, er schüttet als Mephistopheles seinen bittersten Spott über sie aus. Bald dagegen ist er ihr befreundet, ‚schickt‘ sich in sie, wie in der Mehrzahl der ‚Zahmen Xenien’ und vielen prosaischen Schriften, feiert sie […], ja verteidigt sie gegen die andrängende geschichtliche Bewegung, wie namentlich in allen Schriften, wo er auf die französische Revolution zu sprechen kommt […]; es ist ein fortwährender Kampf in ihm zwischen dem genialen Dichter, den die Misère seiner Umgebung anekelt, und dem behutsamen Frankfurter Ratsherrnkind, resp. Weimarschen Geheimrat, der sich genötigt sieht, Waffenstillstand mit ihr zu schließen und sich an sie zu gewöhnen. So ist Goethe bald kolossal, bald kleinlich; bald trotziges, spottendes, weltverachtendes Genie, bald rücksichtsvoller, genügsamer, enger Philister. Auch Goethe war nicht imstande die deutsche Misère zu besiegen, im Gegenteil, sie besiegte ihn, und dieser Sieg der Misère über den größten Deutschen ist der beste Beweis dafür, daß sie ‚von innen heraus‘ gar nicht zu überwinden ist. Goethe war zu universell, zu aktiver Natur, zu fleischlich, um in einer Schillerschen Flucht ins Kantsche Ideal Rettung vor der Misère zu suchen; er war zu scharfblickend, um nicht zu sehen, wie diese Flucht sich schließlich auf die Vertauschung der platten mit der überschwenglichen Misère reduzierte. Sein Temperament, seine Kräfte, seine ganze geistige Richtung wiesen ihn aufs praktische Leben an, und das praktische Leben, das er vorfand, war miserabel. In diesem Dilemma, in einer Lebenssphäre zu existieren, die er verachten mußte, und doch an diese Sphäre als die einzige, in welcher er sich betätigen konnte, gefesselt zu sein, in diesem Dilemma hat sich Goethe fortwährend befunden […].“ (MEW 4, S. 207-247, hier: S. 232)
Engels hatte insbesondere gegen die nicht-dialektisch aufgebaute Studie „Ueber Goethe vom menschlichen Standpunkte“ (Darmstadt: Carl Wilhelm Leske 1846) des linkssozialistischen Publizisten Karl Grün (1817-1887) polemisiert. Vielmehr sei das „Dilemma“ zwischen Eskapismus und realistisch-bejahender Lebensgestaltung zu erkennen, indem die Antinomien der bürgerlichen Gesellschaft von Goethe – dem Plastiker des empfundenen Gedankens der Anschauung – ästhetisch transformiert worden waren (z. B. Moderne-Kritik im Drama des „Faust“ anhand künstlicher Retortenintelligenz und Landgewinnung durch Deichbau; dagegen die Entwicklung des Begriffs „zarter Empirie“ als nicht-instrumentelle Naturauffassung). Feudalabsolutistische Klassen-, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse bleiben als Ursache der deutschen Misere zwar bestehen, aber der mimetische Autonomiecharakter von Dichtung und Kunst kann andere Formen von Wirklichkeit als Möglichkeit sozial befriedeter Verhältnisse antizipieren. Dass Goethe und sein Weimarer Kunstfreund Johann Heinrich Meyer nicht davor zurückschreckten, sich in die aktuelle Kunstpolitik einzumischen, zeigt vor allem der Aufsatz „Neudeutsche religiös-patriotische Kunst“ (1817), indem beide Vertreter des Klassizismus die reaktionäre Ideologie romantischer Nazarener im Kontext des Wiener Kongresses und der Neuordnung Europas aufgespießt hatten.
Gelesen und besprochen werden u. a. Goethes „Italienische Reise“ (real: 1786-88, veröffentlicht: 1817, Teil 1/1829, Teil 2), die Gedichte „Weltseele“ (1803), „Dauer im Wechsel“ (1803), „Urworte. Orphisch“ (1817), „Epirrhema“ (1820), „Eins und Alles“ (1824), „Vermächtnis“ (1829), natur- und kunstwissenschaftliche Essays wie „Studie nach Spinoza“ (1784/85), „Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt“ (1792), „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“ (1792), „Baukunst“ (1795), „Erfahrung und Wissenschaft“ (1798), „Anschauende Urteilskraft“ (1817), „Schicksal der Handschrift“ (1817), „Antik und Modern“ (1818) oder „Nachlese zu Aristoteles‘ Poetik“ (1827) und ausgewählte „Maximen und Reflexionen“ (posthum 1833, teilweise eingestreut im Bildungsroman „Wilhelm Meister“), die sich auf den Zusammenhang von Denken und Tun, Erkenntnis, Wissenschaft und Religion sowie Kunst, Künstler und Gesellschaft beziehen.
Voraussetzungen und weitere Absicht: Neugierde und Lust, Goethe und dessen geistes- kulturgeschichtliche Kontexte wiederzuentdecken, sich auf ihn einzulassen, um die systematische Zusammengehörigkeit von Natur und Kunst, sensitiv-anschaulicher Wahrnehmung gesellschaftlicher Mitwelt und kognitiv-philosophischer Durchdringung ihrer Gegenständlichkeit als Lebensthema ästhetischer Produktionsphasen kenntlich zu machen. Kurzum: Goethe wird als höchst lebendiger Klassiker nicht stillgestellt, sondern in unzeitgemäßer Bewegung gehalten. Alle Texte (s. Bibliographie und Terminplan) werden im Handapparat der UB (Abteilung: Philosophie) zur Verfügung gestellt. Die Anschaffung von Goethes „Hamburger Ausgabe“, oder einzelner Werkbände, ist zu empfehlen. Die erste Sitzung wird mit den beiden Essays „Studie nach Spinoza“ und „Die Natur“ eröffnet; danach sollte der erste Teil der „Italienischen Reise“ gelesen sein.
Primärliteratur:
Goethe, Johann Wolfgang v.: Wanderers Nachtlied [1776], Ein Gleiches [1780], Grenzen der Menschheit [1781], Das Göttliche [1783], Weltseele [1803], Dauer im Wechsel [1803], Urworte Orphisch [1817], Epirrhema [1820], Eins und Alles [1824], Vermächtnis [1829]. In: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 1. Gedichte und Epen. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1982, S. 142, S. 146 f, S. 147 f, S. 248 f, S. 247 f, S. 359 f, S. 358, S. 368 f, S. 369 f.
Italienische Reise [1817/1829]. Band 11. Autobiographische Schriften III. S. 7-556.
Von deutscher Baukunst [1772], Einfache Nachahmung, Manier und Stil [1789], Baukunst [1795], Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke [1798], Antik und Modern [1818], Über epische und Dramatische Dichtung. Von Goethe und Schiller [1797], Nachlese zu Aristoteles‘ Poetik [1827], Maximen und Reflexionen [posthum 1833]. In: Band 12. Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, S. 7-15, S. 30-32, S. 35-38, S. 67-73, S. 172-176, S. 249-251, S. 342-345, S. 365-547.
Studie nach Spinoza [1784/85], Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt [1792], Erfahrung und Wissenschaft [1798], Einwirkung der Neueren Philosophie [1817], Anschauende Urteilskraft [1817], Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort [1823], Die Natur [1783], Schicksal der Handschrift [1817], In: Band 13. Naturwissenschaftliche Schriften I, S. 7-10, S. 10-20, S. 23-25, S. 25-29, S. 30 f, S. 37-41, S. 45-47, S. 102-105.
Meyer, Johann Heinrich: Neudeutsche religiös-patriotische Kunst [1817]. In: Goethe, Johann Wolfgang: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Herausgegeben von Ernst Beutler. Band 13 (Schriften zur Kunst). Zürich: Artemis Verlag 1949, S. 709-727.
Sekundärliteratur:
Birus, Hendrik: Gesammelte Schriften. Band 3. Goethe-Studien. Göttingen: Wallstein Verlag 2022 (Münchener Komparatistische Studien, Band 14).
Buck, Theo/Dahnke, Hans-Dietrich/Otto, Regine/Schmidt, Peter/Witte, Bernd (Hrsg.): Goethe-Handbuch. Sonderausgabe (6 Bände). Stuttgart, Weimer: Verlag J. B. Metzler 2004.
Cassirer, Ernst: Goethe und die geschichtliche Welt [1932]. Mit einem Vorwort herausgegeben sowie mit Anmerkungen und Registern versehen von Rainer A. Bast. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1995.
Chiarni, Paolo (Hrsg.): Bausteine zu einem neuen Goethe. Frankfurt/Main: Athenäum Verlag 1987.
Conrady, Karl Otto: Goethe. Leben und Werk [1981]. Frankfurt/Main: Athenäum Verlag 1987.
Engels, Friedrich: Deutscher Sozialismus in Versen und Prosa [1847]. In: Ders.: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. Band 4. Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung. Berlin: Dietz Verlag 1990, S. 207-247.
Göres, Jörn (Hrsg.): Goethe in Italien. Eine Ausstellung des Goethe-Museums Düsseldorf. Mainz: Verlag Friedrich von Zabern 1986.
Heller, Erich: Essays über Goethe. Frankfurt/Main: Insel Verlag 1970.
Mehring, Franz: Ästhetische Streifzüge [1898]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 11. Herausgegeben von Thomas Höhle, Hans Koch, Josef Schleifstein (Aufsätze zur deutschen Literatur von Hebbel bis Schweichel). Berlin: Dietz Verlag 1961, S. 141-166.
Peschken, Bernd: Goethe, bürgerlicher Schriftsteller, in sozialgeschichtlichem Zusammenhang. In: Literaturmagazin 2. Von Goethe lernen? Fragen der Klassikerrezeption. Herausgegeben von Hans Christoph Buch. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Verlag 1974, S. 28-48.
Safranski, Rüdiger: Goethe. Kunstwerk des Lebens. Eine Biographie. München: Carl Hanser Verlag 2013.
Steinfeld, Thomas: Goethe. Portrait eines Lebens, Bild einer Zeit. Berlin: Rowohlt-Berlin Verlag 2024.
Tomberg, Friedrich: Dichterfürst oder Fürstenknecht? Überlegungen zu einer falschen Alternative im Umgang mit der deutschen Klassik. In: Literaturmagazin 2. Von Goethe lernen? Fragen der Klassikerrezeption. Herausgegeben von Hans Christoph Buch. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1974, S. 14-27.
Vorländer, Karl: Kant – Schiller – Goethe. Gesammelte Aufsätze. Leipzig: Verlag der Dürr’schen Buchhandlung 1907.
Terminplan:
07. 04. 2025 Einführung, Die Natur (1783), Studie nach Spinoza (1784/85)
14. 04. 2025 Italienische Reise (1786/88; 1817/1829)
21. 04. 2025 Ostermontag
28. 04. 2025 Italienische Reise
05. 05. 2025 Von deutscher Baukunst (1772), Baukunst (1795)
12. 05. 2025 Einfache Nachahmung, Manier und Stil (1789), Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke (1798)
19. 05. 2025 Der Versuch als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt (1792), Erfahrung und Wissenschaft (1798)
26. 05. 2025 Einwirkung der Neueren Philosophie (1817), Anschauende Urteilskraft (1817), Schicksal der Handschrift (1817), Neudeutsche religiös-patriotische Kunst (1817), Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort (1823)
02. 06. 2025 Antik und Modern (1818), Über Epische und Dramatische Dichtung. Von Goethe und Schiller (1797), Nachlese zu Aristoteles‘ Poetik (1827)
09. 06. 2025 Pfingstmontag
16. 06. 2025 Wanderers Nachtlied (1776), Ein Gleiches (1780), Das Göttliche (1783)
23. 06. 2025 Weltseele (1803), Dauer im Wechsel (1803), Urworte. Orphisch (1817)
30. 06. 2025 Epirrhema (1820), Eins und Alles (1824), Vermächtnis (1829)
07. 07. 2025 Maximen und Reflexionen, Abschlussgespräch